Welchen Wert unsere Natur hat, bekam Sabina Hörtner von ihren Eltern schon als Kind vermittelt. Die Mutter, eine Sennerin in ihrer Jugend, die viel über Kräuter wusste. Der Vater, ein begeisterter Bergsteiger, den es Tag für Tag hinaus in die Natur zog. Gab es etwas zu besprechen, ging man wandern. Schritt für Schritt, einatmen, ausatmen, reden, beobachten, dabei nichts ausreißen, nichts abschneiden. Man respektiert Pflanzen.
Manche mögen das für selbstverständlich halten. Schließlich geht es bei der Natur um nichts we- niger als unsere Lebensgrundlage. Sie gibt uns den Sauerstoff, den wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Nahrung, die wir essen, die Pflanzen, die uns heilen. Sie lässt uns leben. Und sie inspiriert uns. Seit jeher dient sie uns als Muse. Schon in der Altsteinzeit malten Menschen Hir- sche, Wildpferde und Auerochsen auf die Wände der Höhle von Lascaux. Die Ästhetik der Natur zählt zu all dem Wertvollen, das die Natur uns Menschen ohne Gegenleistung gibt. Viele ihrer Leistungen nehmen wir als gegeben hin, obwohl von ihnen abhängig sind.
So selbstverständlich der Respekt vor der Natur für manche sein mag: Gesamtgesellschaftlich scheint er irgendwo verloren gegangen zu sein. Zweierlei lässt sich seit Anbeginn der Mensch- heitsgeschichte zweifelsfrei belegen: Noch nie trat der Homo sapiens in so großer Zahl auf wie heute. Und noch nie kam die Natur seither so stark unter Druck. Der Mensch hat sich die Welt un- tertan gemacht, Gebiet um Gebiet erschlossen, das Land geformt, Sümpfe trockengelegt, Flüsse reguliert, Wälder gerodet, Raine zu Feldern umgeackert und Wiesen asphaltiert. Er hat Pflanzen totgespritzt, Tiere ausgerottet, das Wasser vergiftet, die Luft verpestet und Böden erodieren las- sen. Je weiter wir die Natur vernichten, zurückdrängen und gegen sie ankämpfen, desto mehr be- rauben wir uns unserer eigenen Zukunft.
Der fortschreitende Verlust der Biodiversität – also der Rückgang der Vielfalt des Lebens und des Artenreichtums, die unsere Existenz absichern – zählt deshalb zu den großen Krisen unserer Zeit. Etwa eine Million Arten sind heute vom Aussterben bedroht. Das hat der Weltbiodiversitätsrat IP- BES berechnet, der eindringlich warnt: „Das Artensterben beschleunigt sich, was schwerwiegende Folgen für die Menschen auf der ganzen Welt haben dürfte.“ Die fünf größten Treiber dieser Krise lauten: Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung, direkte Ausbeutung von Organismen, Klimawandel, Verschmutzung und invasive gebietsfremde Arten.
Auch Europa trifft die Krise mit voller Härte. Ausgerechnet Österreich, das sich gern als Umwelt- musterland rühmt, ist davon besonders betroffen. Während es mit idyllischen Alpensujets Scharen an Touristen ins Land lockt, wird hinter den schönen Werbetafeln Wiese um Wiese planiert, beto- niert, exekutiert. Österreich gilt als Europameister der Bodenversiegelung, jeden Tag entreißen wir der Natur 11,5 Hektar.
Laut dem Report der Europäischen Umweltagentur zur „Umwelt in Europa“ sind hierzulande vier von fünf der bewerteten heimischen Arten in einem mangelhaften oder schlechten Zustand. Damit landet Österreich auf dem vorletzten Platz im EU-Ranking. Auch die Lebensräume sind laut dem EU-Vergleich stark unter Druck gekommen – selbst wenn das auf den ersten Blick von außen nicht gleich erkennbar ist. Die Alpenrepublik liegt beim Erhaltungszustand der Lebensräume auf Platz 18 aller EU-Mitgliedsstaaten.
Wie weit unser rücksichtsloser Raubbau an der Natur in Österreich vorangeschritten ist, lässt sich am besten an den Roten Listen ablesen, also jenen Verzeichnissen, die den bedrohten Zustand der biologischen Vielfalt in unserer Heimat gnadenlos widerspiegeln. Das Umweltbundesamt, das an sich eine nüchterne Sprache pflegt, findet bei diesem Thema sehr deutliche Worte: „Das Ge- samtbild, das sich aus den Roten Listen gefährdeter Pflanzen ergibt, ist besorgniserregend. Bei der am besten erforschten Pflanzengruppe, den Farn- und Blütenpflanzen, scheinen über 60 Pro- zent der Arten in den Roten Listen auf! Auch bei Moosen und Flechten zeichnet sich ein ähnliches Bild ab.“ Nachsatz: „Biotopzerstörung und -veränderung sind als Ursachen der Schädigung und Vernichtung von Pflanzenvorkommen von überragender Bedeutung.“
Das alles sind Fakten, die schwer im Magen liegen und kaum zu verdauen sind. Aber wie schafft man es, sie den Menschen so zu vermitteln, dass sich dieser große gesellschaftliche und selbst-zerstörerische Trend umkehrt? Wie gelingt es uns auf unserem morsch gewordenen Ast, die Säge- rInnen zu stoppen?