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Sabina Hörtner

Linien sind in der Natur selten zu sehen. Was als Linie erscheint, ist oft nur der Verlauf einer Form, deren Umriss als Linie vorgestellt werden kann. Der Umriss eines Hauses steht dann für das Haus, das der Verlauf der Linie bezeichnet; das Gleiche gilt für den Kreis, der die Kugel meint. Selbstredend stehen diese Linien für eine Konvention, mit der Linie die Grenzen einer Form zu identifizieren. In diesem Sinne lässt sich die Linie von der Figur der Grenze kaum trennen: Linien markieren die Grenzen, an denen eine Form endet und etwas anderes beginnt. Dieses Andere ist jener Bereich, der außerhalb einer Grenze gedacht wird. Damit verläuft eine Linie im Regelfall zwischen einem vermeintlichen Innen, das hier an die Grenze stößt, und einem imaginären Außen, das jenseits dieser Linie beginnen sollte. Wenn man so will, trifft man hier auf die ideologische Figur der Linie, die als Grenzphänomen gesehen wird. Die Linie markiert die Grenze zwischen einem Innen und Außen und entscheidet, was dazu gehört und was ausgeschlossen wird. Eine Kritik an der Grenze hat nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie insistiert darauf, dass eine Linie – sprich: eine Grenze – falsch gezogen ist und daher anders verlaufen sollte. Damit wird an die Stelle der einen Linie eine andere gezogen. Diese Grenzkonflikte – gedacht als Linienkonflikte – liegen einem Großteil der politischen Auseinandersetzungen über Territorialvorstellungen zugrunde. Das Ergebnis ist auch bekannt: Anstelle den Grenzkonflikt gelöst zu haben, wird dieser nur verschoben und beginnt von neuem. Also zweimal hinsehen und bloß die Linien verschieben, reicht für eine Kritik am Grenzphänomen scheinbar nicht. Was im Regelfall von der Verschiebung bleibt, ist eine verwischte Politik mit dem Hang zur Wiederholung des Linienkonflikts.
Die andere Möglichkeit einer Kritik an der Grenze besteht darin, die Linie aus ihrer Nähe zur Grenzziehung zu befreien und sie gewissermaßen freizustellen – sie von dieser Lokalisierung zwischen einem Innen und Außen zu entkoppeln. Dieser Aufgabe widmet sich die Zeichnung, die jenseits des Ziehens von Linien an der Figur der Linie selbst arbeitet. Der ideologische Apparat der Linie in der Zeichnung basiert auf der Vorstellung, dass die Linie diesen Konflikt von Außen und Innen in sich trägt – d.h., dass sie Innen und Außen zugleich verkörpert und wechselweise vertauscht. Das vermeintliche Innen fließt nach außen und dieses dreht sich nach innen. Diese Verhandlung markiert die Qualität der Zeichnung. Die Linie emanzipiert sich als Strich und Strichführung von der bloßen Grenze einer Form. Bei der Zeichnung bedeutet zweimal hinzusehen nicht das Verschieben der Linie, sondern das Erkennen der Verflechtung von Innen und Außen. Die Grenze der Linie ist die Grenze dieser Verhandelbarkeit.
Sabina Hörtner arbeitet schon seit Jahren an einer Konfrontation dieser beiden Linienfiguren. In ihren raumgreifenden Zeichnungen konfrontiert sie Raumachsen und Grenzen mit einer Lineatur, die anderen Perspektiven und Grenzvorstellungen folgt. Das Ergebnis war dann ein doppeltes Koordinatensystem, dessen Verschiebung eine Irritation gesetzter Raumvorstellungen zur Folge hatte. In ihren neueren Arbeiten folgt sie dieser Logik, indem sie das doppelte Koordinatensystem ins Bild selbst hinein nimmt und, vergleichbar der Doppelbelichtung oder dem Nachbild, zwei Bilder ineinander zu schieben scheint. Ihre Motive nimmt sie aus den Räumen, in denen die Bilder gezeigt werden, d.h. echohaft kehrt der einstige Raumbezug als Motiv wieder. Was man dann aber zu sehen bekommt, ist genau das Verweigern, für ein Motiv eine Linie und damit eine Grenze zu markieren; anstelle dessen emanzipiert sich das Bild vom Grenzphänomen und tendiert zu dessen Auflösung. Was erscheint, ist die Auflösung eines Motivs, das zugunsten der Zeichnung von Linien zurücktritt. Blickt man zweimal hin, dann sieht man auch die Zeichnung in den Linien, die sich gerade ob ihrer »Ungenauigkeit« genau von der scheinbaren Struktur ihres Motivs verabschieden. So gerade sie mit dem »Lineal« gezogen scheinen, so sehr sind sie hier und da unscharf, so sehr führen sie über die imaginäre Grenze einer Form hinaus. Was allein scharf und eindeutig bleibt, ist die Qualität der Zeichnung, nicht irgendwelchen Grenzvorstellungen zu folgen und diese zu bestätigen, sondern auf die Zeichnung als einzig politisch legitimer Linienführung zu insistieren. Nur wer die haltlose Trennung von Innen und Außen erkennt, erkennt auch den Spielraum, der sich jenseits dieser Dialektik eröffnet. Vor diesem Horizont gehören auch die Fotografien von Sabina Hörtner lokalisiert, die eine Person in den Blick nehmen, um daneben und zugleich den Ausblick dieser Person zu zeigen, wenn diese sehend nach innen blickt und schauend »innehält«. Diese Blicke folgen der Zeichnung, wenn sie Innen und Außen untrennbar ineinander drehen. Scheinbar fern von der Linie und Zeichnung zeichnet sich in diesen Fotografien die Zeichnung als Prinzip ab, das sich über die bloß mediale Zuordnung hinwegsetzt. Die Zeichnung ist auch da am Werk, wo sie wie Fotografie aussieht. Aber sieht man zweimal hin, …