Gezählte 732 Einzelzeichnungen, in den Maßen 50 x 70 cm, hat Sabina Hörtner in ihrem Atelier angefertigt und anschließend an den Wänden des Kunsthaus Mürzzuschlag angebracht. Was die Künstlerin zunächst als Idee anhand eines Modells entworfen und zeichnerisch realisiert hat, wird damit im realen Raum sichtbar.
Die Zeichnungen bedecken vollständig die Wände des Ausstellungsraumes und gehen eine Synthese im neu entstandenen rahmenlosen Bild ein. Dadurch, dass die Ausgänge ausgespart werden, verschmilzt das Werk gänzlich mit der architektonischen Struktur. Die Betrachter finden sich wieder in einem ungewöhnlichen, von Linien erzeugten und definierten Raum, der außerordentliche räumliche Erfahrungen ermöglicht.
Auch in ihrem neuesten Werk schreibt Sabina Hörtner mit einfachen geraden Linien, die seriell horizontal und vertikal nebeneinander gesetzt werden, eine zeichnerische Situation in einen vorgegebenen architektonischen Raum ein. Drei Zentimeter dicke Striche aus Filzstiften, die mit speziellen Acrylfarben befüllt werden können, bilden ein die Fläche feinteilig gliederndes und rhythmisierendes Raster. Nicht die einzelne Linie ist von Bedeutung, sondern das Liniengewebe in seiner Gesamtheit, das den Raum auskleidet und in seiner Erscheinung transformiert. Dieses wird erzeugt durch eine Linienschichtung, in der die färbigen horizontalen Linien mit den schwarzen vertikalen Linien verwoben und die Farben einmal opak, einmal transparent aufgetragen sind.
Die Arbeit an den Zeichnungen verlangt ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Konzentration. Denn die einmal gezogene Farblinie ist nicht korrigierbar. Sie muss, beginnend beim Ansetzen des Stiftes auf das Papier, in einer einzigen exakten Bewegung ausgeführt werden.
Sicherlich stellt sich dabei ein ruhiger Arbeitsrhythmus ein, denn die Forderung besteht nicht im spontanen Kreieren eines ungewöhnlichen Linienverlaufs, sondern im steten Wiederholen der immer gleichen Bewegung, dem kontinuierlichen Setzen gleichmäßiger, gerader Linien.
Die Künstlerin selbst verweist auf diese gleichsam meditative Qualität des Zeichnens und vergleicht ihre Arbeitsmethode ganz ohne religiöse Bezugnahme mit derjenigen des Mandala: als geometrisches, vergängliches Schaubild, das in wochenlanger Arbeit entsteht und schließlich wieder zerstört wird.
Von der Regelmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Linienrasters jedoch heben sich zwei in ihrem Aussehen und ihrem Verlauf auffällige, unregelmäßige, horizontal über alle vier Wände verlaufende, lineare Züge deutlich ab. Entstanden sind diese auch nicht durch das Ziehen einer einfachen Linie, sondern durch repetitive Linienbrüche, bzw. Linienversetzungen, die eine doppelte Zäsur bilden. In der Wahrnehmung der Betrachter erscheinen beide Zäsuren als organisch verlaufende, gegengleich auf- und abschwingende Linien.
Der Fluß des gleichförmigen und einheitlichen Linienrasters, dieser rein selbstbezüglichen, nüchternen Strichkonstellationen bringt, einmal durchbrochen, etwas Unvorhersehbares hervor. Im gewollten und geplanten Regelbruch entfaltet sich eine besondere Linie, deren Verlauf unbestimmt und regellos ist.
Der Titel „metermachen“ verweist auf das damit verbundene Thema. Der umgangsprachliche Ausdruck wird von Bergsteigern verwendet, die weite Entfernungen im oft schwierigen Gelände zurücklegen müssen. Auch die Bedeutung von „Holz machen“, gemessen in Raummetern, steht dahinter. Ausgehend von Erinnerungen an ihre Kindheit und speziell an ihren verstorbenen Vater transferiert Sabina Hörtner eine Gegebenheit der Natur in den Museumsraum: den von einem bestimmten Berg, der Schneealpe, aus wahrnehmbare Horizont, wie er sich einem Rundum-Blick vom Gipfel in die Ferne zeigt. Der reale Horizontverlauf, die sichtbare Grenzlinie zwischen Himmel und Erde, die sich entsprechend den natürlichen Gegebenheiten – den verschiedenen Kuppen, Gipfeln, Senken und Tälern – entwickelt, wiederholt sich im abstrakten Bildraum nicht als illusionistisch-abbildendes Landschaftspanorama, sondern als kaleidoskopisch ausgebildetes Gefüge sich einander begegnender und kreuzender Linienverbände. Spiegelbildlich verdoppelt durchläuft der Horizont im Kreislauf seines Wahrgenommenseins alle vier Himmelsrichtungen, farblich fein nuanciert bestimmt und abgestimmt, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. „Wie im Leben“, so die Künstlerin, entstehen für die sich im Raum bewegenden und wahrnehmenden Betrachter „immer neue Situationen, die sich nicht wiederholen“.
Das Prozessuale, Ereignishafte des bildnerischen Motivs, auf das Sabina Hörtner hinweist, prägt auch ihre Arbeitsweise. Dabei kommt dem händischen, zeitaufwändigen Farbauftrag eine werkkonstitutive Bedeutung zu. Dieser unterläuft sichtbar die Monotonie der Linienzüge mit kleinen Unregelmäßigkeiten, wie sie vor allem im wiederkehrenden Verblassen des Farbstrichs entstehen, bevor der Stift mit Farbe neu befüllt werden muss.
Der Arbeits- und Gestaltungsprozess, in dem die abstrakte Linie zunächst rein als Konstruktionselement ohne Naturbezug verwendet wird, gestaltet sich prinzipiell unabhängig von jedem subjektiv-expressiven Ausdrucksverlangen. Das Liniengefüge präsentiert eine klare, emotionslose bildnerische Aussage, deren räumlich allumfassender Eindruck auch nicht darauf abzielt, die Betrachter sinnlich oder emotional zu überwältigen.
Sabina Hörtners Blick auf die Welt ist aber weder kühl noch distanziert. Ein der Raumarbeit beigefügtes Video verdeutlicht ihre Intention. Zu sehen ist hier ein Ausschnitt besagter Alm, von einem fixen Standort aus aufgenommen: Nebelschwaden ziehen über Bergwiesen, in unbeständiges Sonnenlicht getauchte Gräser und Blumen bewegen sich leicht im Wind. Natur in ihrer phänomenalen Fülle kommt zum Ausdruck, erscheint aber zugleich durch die vorgenommene Verlangsamung der Naturbewegungen verfremdet.
Sowohl im Bildraum als auch im Filmbild führt „metermachen“ veränderliche, generative, mithin auch flüchtige Vorgänge vor. Dem Prozessualen der Naturphänomene und der auf sie bezogenen bildnerischen Realisierungen aber entspricht eine Wahrnehmung, die nicht auf ein Einzelnes fixiert bleibt und sich auf das wechselnde Spiel der Erscheinungen einzulassen imstande ist.
Voraussetzung dafür ist ein ästhetisches Naturverhältnis, das mit der Dehnung der vorbeiziehenden Momente im Videofilm geradezu provoziert wird. Dieses besondere Verhältnis ist charakterisiert durch jene bestimmte Art der Betrachtung, die ganz im absichtslosen Schauen, im intuitiv-ganzheitlichen Erfassen des von Augenblick zu Augenblick sinnlich Gegebenen aufgeht.
Das auf diese Weise Betrachtete zeigt sich – jenseits begrifflicher und verstandesmäßiger Festlegung – als Form, als Bewegung, als phänomenales Ereignis. Es identifizieren und benennen zu können, bleibt letztlich ohne Bedeutung.
Kerstin Barnick-Braun